Ilse Biro

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HIER WOHNTE
ILSE BIRO
GEB. STERN
JG. 1904
FLUCHT 1938
JUGOSLAWIEN, PALÄSTINA

 

Ludwig Biro wurde 1898 in Budapest geboren. Nach der Trennung seiner Mutter Irene von Max Biro, einem Budapester Zahnarzt, übersiedelte seine Mutter mit ihm und seinem jüngeren Bruder Paul nach Graz, wo die Familie mütterlicherseits lebte. Moritz Fürst, der Großvater von Ludwig, war bis 1893 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde. Er besaß in Graz eine Weinhandlung und ein Haus in der Annenstraße. Onkel Adolf Fürst, für Ludwig eine der wichtigsten Bezugspersonen, führte ein Geschäft in Eggenberg und wohnte mit seiner Tochter Vally am Marburger Kai. Die jüdische Religion und damit im Zusammenhang stehende Traditionen spielten in der Familie eine bedeutende Rolle, der Haushalt wurde koscher geführt und die Synagoge regelmäßig besucht.
In diesem – wie er es in seinen Erinnerungen selbst beschreibt – dennoch assimilierten, jüdisch-bürgerlichen Umfeld wuchs Ludwig auf, ging zuerst in die Jüdische Volksschule und dann in das Akademische Gymnasium, als er sich im Mai 1916 freiwillig zum Kriegsdienst meldete. Doch schon 1917 kehrte er, durch eine Granate verwundet, von der Isonzofront zurück und studierte an der Universität Rechtswissenschaften – wo er erstmals massiv mit Antisemitismus konfrontiert wurde. Sein Bruder Paul starb 1917 auf tragische Weise nach einem Herzstillstand beim Schwimmen.

Weil seine Mutter nochmal heiratete und ihrem Mann Sigmund Wulff, einem Reeder und Viehhändler, nach Berlin zog, verbrachte Ludwig nach seinem Studium einige Zeit dort. Er arbeitete als Korrespondent in einer Bank und lernte seine spätere Frau Ilse Stern – die am 29. November 1904 in Berlin geboren wurde – kennen. Nach zwei Jahren kehrte er mit ihr in die Steiermark zurück, wo er erfolgreich seine Anwaltskarriere startete. Seine während der Studienzeit gebildete politische Meinung musste er deswegen verbergen: „Mich offen als Marxist und Gegner der bestehenden Gesellschaftsordnung zu deklarieren, hätte das Ende meiner advokatorischen Laufbahn noch vor ihrem Beginn bedeutet. Ich musste daher in den Untergrund gehen und ein Doppelleben führen. Nach außen Konformist, traditioneller, seriöser Bürger des Landes, Angehöriger der gehobenen Gesellschaft, innerlich überzeugter Kommunist und Oppositioneller“.
Seit September 1929 wohnten Ilse und Ludwig in der Pestalozzistraße 32. Am 25. März 1931 wurde Tochter Lore geboren und die Biros führten ein glückliches Familienleben, welches allerdings sieben Jahre später, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, abrupt endete. Am 13. März 1938 wurde Ludwig davon in Kenntnis gesetzt, dass er das Land binnen 24 Stunden verlassen müsse. Kurzfristig sorgten Freunde für eine Zufluchtsmöglichkeit, doch als er zwei Tage später in seine Wohnung zurückkehren wollte, wurde er von Gestapo-Beamten und SS-Männern ins Kreuzverhör genommen: „Wir brauchten nicht lange zu warten: Eine Stunde später fuhr ein Überfallskommando vor, die Besatzung, ein Kriminalbeamter und zwei SS-Leute in voller Wichs, stürzten heraus, als gelte es einen Mord zu verhindern und im nächsten Moment war unsere Wohnung strategisch gesichert.“
Vorläufig zogen die Nationalsozialisten allerdings wieder ab. Doch die Stimmung in Graz im März 1938 wurde zunehmend bedrohlich, wie Biro in seinen von Christian Fleck herausgegebenen Erinnerungen beschrieb: „In den allernächsten Tagen setzten Verhaftungen ein. Prominente Politiker, Sozialisten, Leute von der Regierungspartei, Beamte, Geistliche, Funktionäre der Vaterländischen Front und Juden, alte Männer und halbe Kinder, Heimwehrleute und Gymnasiasten, bald auch Frauen wurden ins Polizeigefängnis eingeliefert. […] Tag und Nacht durchdröhnte das nahe und ferne Getrampel marschierender Kolonnen die Straßen; abgehackte, gewalttätige Lieder stiegen drohend zu den Häuserfronten auf, die hinter den blutroten Fahnenwänden kaum zu sehen waren.“

Ilse und Ludwig Biro

Ilse und Ludwig Biro
Quelle: Alexander Verdnik, Dr. Ludwig Biró – Erinnern an das Jahr 1938 in Graz, in: David, Jüdische Kulturzeitschrift, Ausgabe 92 (04/2012), online im Internet


 

Erschreckend war für Biro, dass Leute, die ihm und seiner Familie bisher freundlich gesinnt waren, sie nach dem „Anschluss“ nicht mal mehr grüßten. An seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt hatten die „arischen“ Klienten nun kein Interesse mehr. Tagtäglich wurde Biro vor Gericht mit den neuen antijüdischen Gesetzen konfrontiert, „mit einem Juden“ wurde von der gegnerischen Partei „nicht verhandelt“. Aufgrund seines Berufs fürchtete er die Rache ehemaliger Gerichtsgegner: „Als Anwalt hatte ich Feinde, besiegte Gegner, Nazikollegen, mit denen es einmal eine Auseinandersetzung gegeben hatte; ich wunderte mich täglich noch in meiner Wohnung zu sitzen. Morgens um vier, fünf Uhr wachten wir mit rasendem Herzklopfen auf, jeden Wagen, der vorüberfuhr, verfolgten wir, bis er das Haustor passiert hatte, jedes Geräusch an der Türe ließ uns erbleichen.“
Trotzdem versuchte Biro in den folgenden Wochen mittels seiner Möglichkeiten als Anwalt von der Verfolgung bedrohten jüdischen Klienten zu helfen: „Die Tätigkeit in der Kanzlei war fieberhaft in diesen Apriltagen, gespenstisch, geladen mit einer nervösen Spannung, alptraumhaft. Ein angstverzerrtes Gesicht nach dem anderen tauchte an meinem Schreibtisch auf, jede Stunde brachte eine Schreckensnachricht, die Räume waren voll von Menschen, die sich hier, im Kreise von Bekannten und Schicksalsgenossen, sicherer fühlten als in ihren Wohnungen.“

Am 25. März kam schließlich die Gestapo in die Kanzlei und Biro wurde, nach einer Durchsuchung seiner Wohnung, wegen des „Besitzes illegaler Zeitschriften“, seiner Funktionstätigkeit bei B’nai B’rith und „kommunistischer Betätigung“ verhaftet. Im Gestapo-Gefängnis am Paulustor wurden er und jüdische Mithäftlinge misshandelt – Peitschenhiebe und Fußtritte gehörten zur Tagesordnung. Biro beschreit die Eindrücke aus der Zeit der Gefangenschaft: „Von da an war ich offiziell nicht mehr ,Dr. Ludwig Biró‘ sondern ,Biró auf Zelle 26′. Ich wurde genau untersucht und abgetastet, der Inhalt meiner Taschen wurde abgenommen, zum Schluss auch meine Brille; das gab mir den Rest. In wenigen Minuten schloss sich hinter mir die eiserne Türe der Zelle 26 im ersten Stock. Vor Schwäche – ich hatte praktisch seit etwa achtzehn Stunden nichts gegessen -, vor Verzweiflung und ohnmächtiger Wut über die demütigende Behandlung, die mir damals noch neu war, warf ich mich halb ohnmächtig über das Brett, das als Tisch dienen sollte.“
Insgesamt dreimal wurde der Rechtsanwalt festgenommen und eingesperrt, eher er gegen eine Kaution von 10.000 Mark freikam. Nach der Zusage, das Land zu verlassen, kam er gegen eine Kaution frei und versuchte von diesem Zeitpunkt an, ein Visum für das Ausland zu bekommen. Währenddessen wurde seine Anwaltskanzlei liquidiert. Auch die Wohnung in der Pestalozzistraße hatte man mit Ende April aufgeben müssen, die vorläufig letzten Monate in Graz wohnte die Familie nun in der Kaiserfeldgasse 21.

Ludwig Biro

Ludwig Biro
Quelle: Ludwig Biro, Die erste Hälfte meines Lebens. Erinnerungen eines Grazer jüdischen Rechtsanwalts von 1900 – 1940. Hrsg. von Christian Fleck. Graz-Wien 1998, 2


 

Die Anstrengungen, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten, schilderte Ludwig folgendermaßen: „Im Laufe des Sommers wurde es allen – bis auf wenige Ausnahmen, die sich privilegiert glaubten – klar, dass die Auswanderung unvermeidlich war. Nun begann die fürchterliche ‚Jagd nach dem Visum‘: In Wien bildeten sich endlose Schlangen vor den Konsulaten, die Leute stellten sich schon gegen Abend an, um morgens rechtzeitig Einlass zu finden, nur um am Mittag unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Telegramme und Briefe gingen nach allen Ecken und Enden der Welt, Verwandte, Bekannte, Geschäftsfreunde wurden mit flehentlichen Bitten um Intervention bestürmt, Aktionen eingeleitet, Visa gehandelt und gefälscht – es gab nur mehr einen Gedanken: fort um jeden Preis.“
Die Bemühungen, nach Amerika, England, Frankreich oder Mexiko emigrieren zu können, blieben erfolglos. Über die Ungewissheit, wohin man – wenn überhaupt – fliehen konnte und die damit verbundenen Umstände erzählte Biro: „Ilse hatte ihre Einkäufe zum größten Teile besorgt, sie war von Geschäft zu Geschäft gelaufen, hatte ihre umfangreichen Listen abgehakt und war nun so halbwegs gerüstet, sowohl für den Äquator wie für den Nordpol. Es war nicht so leicht, unsere Ausrüstung zusammenzustellen, zumal wir ja keine Ahnung hatten, wo wir schließlich einmal landen würden. Andererseits war uns aber bewusst, dass die jetzt gemachten Anschaffungen die letzten für eine unbestimmte Anzahl von Jahren sein würden. So musste alles sorgfältig erwogen werden. Pelz- und Wintermäntel für ein nordisches Klima, leichte Kleider, kurze Hosen, Sporthemden für den Süden, dicke Handschuhe und Badeanzüge, Sandalen und Bergschuhe, Arbeitsanzüge und Smoking. Wir hatten beschlossen, keine Möbel und andere schweren Sachen mitzunehmen, deren Transport an ein unbestimmtes Ziel nur Kosten und Schwierigkeiten gemacht hätten, und uns ganz auf ein ungewisses Wanderleben einzurichten. Es hat sich später erwiesen, dass wir ganz richtig gehandelt haben, denn unsere einzelnen, relativ leichten Kisten bekamen wir dann doch schließlich auf dem Bahnwege nach Palästina nach.“

Der Familie Biro war es bewusst, dass Sparen nun nicht mehr angebracht war, weil ihnen das verbliebene Geld von den Nationalsozialisten ohnehin genommen werden würde. Deshalb investierte man, solange und in dem Ausmaß, in dem es möglich war, in Kleider, Schuhe, Wäsche, Wörterbücher, zusammenlegbare Sessel und Tische sowie Geschirr und Kochgerät. Im September 1938 erhielt Ludwig Biro endlich den Ausweisungsbescheid und er konnte mit Ilse und Lore noch rechtzeitig über die jugoslawische Grenze nach Maribor fliehen. Bis März 1939 blieb man dort in einer Unterkunft, die ihnen ein – Zitat Ilse – „Nazifreund“, auch solche gab es, besorgt hatte. Ilse sah die mehrmaligen Verhaftungen und Schikanen ihres prominenten Gatten und die Hausdurchsuchungen im Nachhinein als „Glück“, da man dadurch rechtzeitig den Ernst der Lage erkannte.

Novemberpogrom 1938: Ruine der zerstörten Grazer Synagoge

Novemberpogrom 1938: Ruine der zerstörten Grazer Synagoge
Quelle: DÖW Foto 997


 

Die Eltern von Ilse, die Mutter und der Onkel von Ludwig sowie viele weitere Bekannte schafften die Flucht allerdings nicht und wurden zu Opfern der NS-Vernichtungsmaschinerie. Durch Briefe und Telefonate erfuhren die Biros vom Novemberpogrom in Graz. Ludwig berichtete in seinen Erinnerungen schockiert von den durch äußerste Brutalität gekennzeichneten Ausschreitungen sowie den Zerstörungen von Synagoge, Zeremonienhalle und Friedhof. Selbst war man diesem Terror gerade noch rechtzeitig entronnen und schaffte es, vorerst weiter nach Zagreb zu flüchten. Ilse Biro erinnerte sich an diese Zeit als eine, in der man unentwegt Angst um sein Leben hatte und sich verstecken musste. Ludwig beschrieb ergänzend die Machtlosigkeit, mit der man sich dem Mitleid und der Hilfsbereitschaft der „mehr oder weniger emigrantenfreundlichen Bewohner“ der jeweiligen Fluchtstationen ausgesetzt sah. Außerdem brachen nach und nach die Kontakte zu den Angehörigen ab. In Zagreb erkannte Ludwig früh genug die radikal-antisemitischen Tendenzen der Ustascha, außerdem war die Aufenthaltsbewilligung für Jugoslawien zeitlich begrenzt. Eigentlich wollte die Familie nach England, dies scheiterte allerdings an einem Transit-Visum durch die Schweiz. Schließlich half die örtliche jüdische Gemeinde finanziell aus und im März 1940 hatte Biro endlich ein Einwanderungszertifikat in den Händen. Er konnte mit seiner Familie nach Palästina fliehen – Ilse, Lore und Ludwig lebten für die folgenden sechs Jahre in Tel Aviv. Dort standen sie vor dem nichts und wohnten anfangs zu dritt in einem Zimmer. Ilse fand Arbeit als Serviererin und Ludwig konnte nach einiger Zeit und ergänzenden Schulungen als Rechtsanwalt tätig sein.
Nach dem Krieg kehrte die Familie Biro trotz aller erlittenen Verfolgung und der Ermordung der nächsten Angehörigen schon 1946 – zum frühesten möglichen Zeitpunkt – nach Österreich zurück. Laut Ilse waren sie „stets mit Herz und Seele echte patriotische Österreicher“. In diesem Sinne beteiligten sie sich am Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde in Graz. Ludwig nahm seinen Beruf als Rechtsanwalt in der steirischen Landeshauptstadt und in Wien wieder auf. In vielen von ihm betreuten Fällen wurde er mit dem Widerwillen der österreichischen Justiz, beschlagnahmtes jüdisches Eigentum zurückzugeben, konfrontiert. Nichts desto trotz erwarb er sich, gemeinsam mit seinem Kollegen Fritz Strassmann, im Rahmen der Restitutionsprozesse große Verdienste. Ludwig Biro starb 1972.
Ilse Biro lebte bis 1989, in einem ein Jahr vor ihrem Tod erschienenen Sammelband über die Ereignisse 50 Jahre davor erzählte sie in einem Gespräch noch ausführlich und in detailreichen Erinnerungen über die Begebenheiten bei der Flucht 1938 und die Rückkehr nach Österreich 1945. Tochter Lore hieß nach ihrer Hochzeit Decleva und verstarb 2003. Auch sie blieb in Österreich und engagierte sich im Koordinierungsausschuss für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die in der Pestalozzistraße verlegten Stolpersteine erinnern an eine, für die Grazer jüdische Gemeinde in mehrerlei Hinsicht, prägende Familie.

Recherche und Biografie: Mag. Thomas Stoppacher

Quellen:

  • Ludwig Biro, Die erste Hälfte meines Lebens. Erinnerungen eines Grazer jüdischen Rechtsanwalts von 1900 – 1940. Hrsg. von Christian Fleck, Graz-Wien 1998.
  • Alexander Verdnik, Dr. Ludwig Biró – Erinnern an das Jahr 1938 in Graz, in: David, Jüdische Kulturzeitschrift, Ausgabe 92 (04/2012), online im Internet (aufgerufen am 30.10.2021)
  • Victoria Kumar, In Graz und andernorts. Lebenswege und Erinnerungen vertriebener Jüdinnen und Juden, Graz 2013, 21-25.
  • Gerald Lamprecht, Die Israelitische Kultusgemeinde Graz. Wiedereinsetzung in den früheren Stand, in: Friedrich Bouvier und Nikolaus Reisinger (Hrsg.), Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 34/35, Graz 2005, 273-302.
  • Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht: Nationalsozialismus in der Steiermark (= Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern, Band 4), Innsbruck 2015, 96-98.
  • Ilse Biro, …verloren wir doch all unsere Angehörigen in unbekannten Konzentrationslagern… Gespräche am 24. August und 25. Oktober, in: Elfriede Schmidt, 1938… und was dann? Fragen und Reaktionen, Thaus 1988, 13-20.
  • Kurt Schubert, Die Gründung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, online im Internet: https://christenundjuden.org/personen.html (aufgerufen am 19.10.2021).
  • Meldezettel der Stadt Graz: Ludwig Biro.
  • Meldezettel der Stadt Graz: Ilse Biro, geb. Stern.

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