Die Familien von Heinrich Engel und Rosa Schreier stammten aus Galizien und ließen sich vor dem Ersten Weltkrieg in Graz nieder. Rosa und Heinrich heirateten 1926, die Kinder Gerda und Alfred kamen 1927 und 1930 zur Welt. Eigenen Angaben zufolge lebten sie in äußerst bescheidenen Verhältnissen zunächst in der Pestalozzistraße, danach in der Lazarettgasse 12, wo Alfreds Großvater mütterlicherseits, Elias Silber, in den 1930er Jahren ein kleines Lebensmittelgeschäft führte. Beide Kinder besuchten die jüdische Volksschule am Grieskai. Die Familie pflegte kaum gesellschaftlichen Umgang mit Nichtjüdinnen und -juden. Obwohl Alfred Engel sich auf die Frage nach der Judenfeindlichkeit vor 1938 an „keine drastischen Vorkommnisse“ erinnern konnte, empfand er die Situation der jüdischen Bevölkerung in Graz als ein „Geduldetwerden“ und deren Status als jenen „Bürger zweiter Klasse“.
Auf Wunsch des Großvaters, für den die religiösen Traditionen noch eine Rolle gespielt hatten, wurden die hohen jüdischen Feiertage eingehalten, die Synagoge aber ansonsten nie besucht. Untypischerweise gehörte keines der Familienmitglieder einem der im Graz der Zwischenkriegszeit existierenden Vereine an und auch dem Zionismus standen sie fern. Im Interview gab Alfred Engel schmunzelnd an, dass er vom Zionismus erstmals in Palästina gehört hätte. Aus wirtschaftlichen Gründen wanderte die Familie dennoch 1933 nach Palästina aus, kehrte allerdings nach drei Jahren zur Verwandtschaft nach Graz zurück, ein Umstand, der ihm aus der Retrospektive unerklärlich erscheint, „wo doch die Zeichen so deutlich und so laut waren.“
Am 2. November 1938 wurde der Familie der Ausweisungsbefehl ausgestellt. Während mehrere Verwandte von den Massenverhaftungen der Pogromnacht betroffen waren, konnte Heinrich Engel der Inhaftierung zufällig entgehen:
„Mein Vater war blond und er fand einen Weg, sich so unauffindbar zu machen wie möglich, in dem er jeden Morgen sein Fahrrad nahm und den ganzen Tag über irgendwo unterwegs war. Eines Morgens ging er wie immer in den Keller, um sein Rad zu holen. Währenddessen kamen meine Mutter und wir Kinder die Stufen runter, um fortzugehen. In dem Moment, wo wir im Treppenhaus waren, kamen zwei Männer – Regenmäntel, also zivile Schutzpolizei auf Kilometer zu erkennen – mit einem Zettel in der Hand und fragten meine Mutter: „Wo wohnt hier Silber-Engel?“ Silber-Engel, weil mein Großvater hieß Silber. Und dann geschah etwas, was mich immer verwunderte, weil meine Mutter keine besonders starke, kräftige, sich durchsetzende Person war. Aber in diesem Moment spielte sie eine Rolle, die mich immer verwunderte, denn sie sagte ganz kühl: „Engel, das ist im 2. Stock.“ Und während sie rauf gingen, kam mein Vater mit dem Fahrrad raus und machte sich auf den Weg. Und so entkam er und wurde nicht gefasst.“
In den folgenden Monaten versuchten die Engels zu einer Auswanderungsmöglichkeit zu gelangen. Der Versuch, zumindest die Kinder in einen der Transporte nach Schweden oder England einzureihen, blieb erfolglos. Die Chance, zu emigrieren, kam schließlich im April 1939 in Form eines illegalen Schiffstransportes nach Palästina:
„Das einzige, das man tun konnte, war zu hoffen und zu warten. Und nach einigen Monaten der Bemühungen kamen Namen auf von möglichen fernen Horizonten, die eventuell Versprechungen enthielten. Und zwar hörte man einen Tag von Kuba. Das Wort „Kuba“ ging herum und man sprach einige Zeit von Kuba. Ich glaube, niemand wusste, was da war und wo das ist. Aber es war ein Hoffnungsstrahl. Nach zwei, drei Tagen hörte man dann Colombia! Und dann hörte man Peru! Und alle diese Namen von Zentral- und Südamerika. Das ging viele Wochen so – ein Wort, ein Name kam auf und versank. Und zuletzt, also als letzter Ausweg, hörten wir von Palästina. Es wundert mich, dass wir nicht früher davon gehört haben. Wir wussten nicht viel über Palästina. Auch viele andere Juden hatten keine genauen Vorstellungen. Man dachte, die Länder in Südamerika sind lange schon bestehende Länder. Das sind wirkliche Länder, aber Palästina ist vielleicht zu dreiviertel Teil Wüste mit nomadischen Arabern, also wer weiß. Also jedenfalls war das der einzige Ausweg.“
Alfred Engel konnte letztlich mit seiner Familie, mehreren Verwandten sowie zahlreichen weiteren Grazer Jüdinnen und Juden an Bord der „Lisl“ auswandern. Ende April 1939 verließen insgesamt 720 österreichische Flüchtlinge, darunter mehr als 200 Personen aus der Steiermark, Wien und gelangten über die Donau ans Schwarze Meer, wo sie gemeinsam mit Emigrantinnen und Emigranten anderer Nationalitäten auf die „Lisl“ umgeschifft wurden.
Im Vergleich zu anderen Schiffstransporten dürfte die Situation an Bord der „Lisl“, die unter panamaischer Flagge knapp vier Wochen nach Palästina unterwegs war, einigermaßen erträglich gewesen sein. Laut einem Bericht hatten die Flüchtlinge ausreichend Verpflegung und litten „nur“ unter der furchtbaren Enge. Die sanitäre Situation sei zwar zufrieden stellend gewesen, „jedoch kann man sich vorstellen, wie die Lage auf einem Schiff war, das 576 Tonnen zählt und für den Transport von Rindern bestimmt ist, jetzt aber 921 Personen führte. Der Gestank nach dem Vieh ist auf dem Schiff bis heute spürbar“. Auch Alfred Engel ist der Geruch und die Enge in Erinnerung geblieben:
„Beim Besteigen des Schiffes ist mir ein entsetzlich starker Geruch von Stroh aufgefallen. Also er war etwa zehn Mal so stark wie in einem Stall. Aber ich glaube, gegen Abend hat man das schon nicht mehr wahrgenommen. Es war ein großes Gedränge, wenig Platz und viel zu viele Menschen für das kleine Schiff.“
Männer und Frauen wurden getrennt untergebracht, einige Passagiere kümmerten sich um ein Unterhaltungsprogramm und es gab eine koschere und eine nicht-koschere Küche. Alfred Engel erzählt dazu folgende Anekdote:
„Zuerst stand ich in der nicht-koscheren Schlange an. Wegen dem Fleisch bin ich dann zu der koscheren Schlange hinüber gegangen, die wahrscheinlich kein Fleisch hatte. Und die religiöseren Juden, die da standen, sagten: „Ah, brav, guter Junge!““
Bis sich die Eltern in Haifa eine eigene Unterkunft leisten konnten, wohnte Alfred Engel, der sich nun Avram nannte, bei einem älteren Ehepaar in Haifa. In der Regel nahm die ansässige Bevölkerung vorübergehend ein bis zwei Emigrantinnen und Emigranten auf.
„Also am nächsten Tag brachte man eine größere Gruppe von uns an einen Platz in Haifa und wir wurden in einer Reihe aufgestellt. Uns gegenüber stand eine Reihe von guten Haifaern, die bereit waren, für die erste Zeit eine Person bei sich aufzunehmen. Diese guten Haifaer, die zeigten dann, wen sie mitnehmen wollen. Damals waren wir sehr dankbar, aber zurückblickend ist das ein bisschen komisch“, erzählte Avram Engel über das „Auswahlverfahren“. Nach der Übersiedelung nach Tel Aviv schlugen sich seine Eltern mit Gelegenheitsarbeiten durch.
„Mein Vater versuchte, die außerordentlich guten Creméschnitten, die meine Mutter gebacken hat, auf der Straße zu verkaufen. Dazu hat er sich ein kleines Brett umgehängt und ist herumgegangen. Ob er erfolgreich war, weiß ich nicht, es war nicht so einfach.“
Avram selbst absolvierte die Bezalel-Kunstschule in Jerusalem sowie ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Haifa und arbeitete danach jahrelang als Architekt, bis er sich seinem eigentlichen Faible, der Malerei, zuwandte. 1967 heiratete er eine aus Schottland stammende Immigrantin. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor.
Trotz der Schwierigkeiten, die mit der Niederlassung in Palästina verbunden waren, hatten sich die Engels nach einiger Zeit „relativ akzeptabel“ eingerichtet, sodass eine weitere Emigration nicht in Betracht gezogen wurde. Mehrere Verwandte wanderten, nachdem sie sich wirtschaftlich nicht zu integrieren vermochten, großteils nach Kanada und in die USA aus. Einzig Avram Engels Schwester Gerda ließ sich später des Berufes ihres Mannes wegen – ebenfalls ein ehemaliger Grazer – in Deutschland nieder.
Avram Engel kehrte erstmals in den 1990er Jahren und danach regelmäßig in die Steiermark zurück, auch „um die große Sehnsucht seit seiner Kindheit zu beantworten.“
Elias Silber, Avrams Engels Großvater, wurde am 25.5.1862 in Stanislaw, Polen, geboren. Er musste am 29. November 1938 aus seiner Wohnung ausziehen und wohnte bis zu seiner Übersiedelung nach Wien Ende Februar 1939 bei seiner Tochter Sophie Kornreich in der Schmölzergasse 6. Sophie Kornreich, geb. Silber (7.6.1899 in Stanislaw) floh im Juli 1939 nach Italien, von wo sie im April 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Elias Silber ist den Quellen zufolge entweder am 20.1. (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes) oder am 20.2.1940 (Archiv der KZ-Gedenkstätte Buchenwald) verstorben.
Über das Schicksal seines Großvaters Elias Silber, erfuhr Avram Engel erst vor wenigen Jahren im Zuge eigener Recherchen.
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Quelle: Kumar V., In Graz und andernorts, Lebenswege vertriebener Jüdinnen und Juden, Clio 2013 (gekürzt). Das Interview mit Avram Engel wurde geführt von Victoria Kumar am 30.11.2009.