geboren: 14. Dezember 1914 in Graz |
1935 Heirat mit Josef Scharfstein und Umzug zu Ruckerlberggürtel 14/II |
März 1938 Inhaftierung und Entlassung nach 6 Wochen |
Dezember 1938 Flucht nach Jugoslawien |
1940 Exil in Ecuador, später Chile |
verstorben im Jahr 2010 in Chile |
Gertrude (Trude) war die Tochter von Wilhelm und Adele Blüh und hatte zwei Brüder, Hans und Alfred. Sie wurde im Dezember 1914 in Graz als zweites Kind im Elternhaus Annenstraße 31 geboren. Die Familie war wohlhabend und gut situiert, besaß etwa ein Auto und ein Telefon.
Mit nur sieben Jahren verlor sie bereits ihre Mutter Adele, die kurz nach der Geburt ihres jüngeren Bruders Alfred im Sommer 1922 verstorben war. Vater Wilhelm musste die zwei älteren Kinder in den ersten Jahren alleine großziehen, Alfred war in der ersten Zeit bei Verwandten untergebracht, bis Wilhelm vier Jahre später Olga Fleischer heiratete. Sie brachte selbst keine Kinder in die Ehe mit, sorgte sich aber intensiv um die Erziehung der drei Geschwister.
Gertrude war ein kränkliches Kind und litt Zeit ihres Lebens an chronischer Bronchitis. In ihrer Jugendzeit wurde sie daher öfter in das Sanatorium in Breitenstein geschickt, wo ihr die bessere Luft gut tun sollte. Der Umstand, dass sie ihre Mutter in jungen Jahren verloren hatte und oft an Krankheiten litt, ihre zweite Mutter wiederum dominant und disziplinierend auftrat, dürfte dazu geführt haben, dass Gertrude sehr anhänglich wurde. Sie hasste es und ängstigte sich davor allein zu sein und war schnell erschrocken.
Stiefmutter Olga versuchte ihr bei der Überwindung ihrer Nöte und Sorgen behilflich zu sein. Als Trude bereits zur Schule ging, durfte sie etwa als jüdisches Kind nicht an einem Tanzkurs teilnehmen. Daraufhin organisierte Olga einen privaten, der dann im Elternhaus stattfand. Später wurde Trude von ihren nichtjüdischen MitschülerInnen antisemitisch beleidigt und schikaniert, nur ein Freund, der selbst jüdisch war, unterstützte sie zu dieser Zeit. Der Freundeskreis reduzierte sich deshalb auf AltersgenossInnen, die auch jüdisch waren.
Nach Beendigung der Schule lernte sie den Geschäftsmann Josef Scharfstein kennen, den sie wenig später im Jahr 1935 heiratete. Im Juli desselben Jahres bezogen sie ihre gemeinsame Wohnung beim Ruckerlberggürtel 14 im zweiten Stock. Gertrude engagierte sich bei der zionistischen, internationalen „Women’s International Zionist Organisation“ (WIZO), die als karitative Frauenorganisation Geld für Sozialprojekte in Palästina sammelte. Hier fungierte sie als Sekretärin und Kassiererin – auch für die jüdische Wohltätigkeitsorganisation B’nai B’rith dürfte sie als Sekretärin gewirkt haben.
Im März 1938 wurde sie, wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht und Machtergreifung der Nationalsozialisten in Österreich, aufgrund dieser Betätigung im jüdischen Vereinswesen inhaftiert. Erst nach sechs Wochen wurde sie wieder freigelassen und musste feststellen, dass auch ihr Gatte in der Zwischenzeit eingesperrt worden war. Josef Scharfstein sollte erst gegen Jahresende aus der Haft entlassen werden, nachdem sein Holzhandelsunternehmen völlig ausgeplündert und anschließend stillgelegt worden war.
Besonders deprimierend waren darüber hinaus auch die Ausschließung und Diskriminierung im Alltag. Trude liebte es etwa im Freien zu sein, die Grazer Parkanlagen aufzusuchen und die Sonne zu genießen. Deshalb war es für sie schockierend, als sie eines Tages auf Parkbänken lesen musste, dass jüdischen BewohnerInnen das Sitzen auf Bänken nun verboten war. Es hieß ab diesem Zeitpunkt: „NUR FÜR ARIER“.
Im Juli 1938 musste Gertrude schließlich auch die gemeinsame Wohnung beim Ruckerlberggürtel 14 verlassen und wieder zu Vater und Stiefmutter in die Annenstraße ziehen. Als ihr Ehemann Josef Ende November bzw. Anfang Dezember mit der Auflage freikam, innerhalb kürzester Zeit das Land verlassen zu müssen, flüchteten beide zur Jahreswende nach Jugoslawien. Hier erhielten sie neue Pässe ohne dem stigmatisierenden „J“ für jüdisch, womit sie nach Italien zu gelangen versuchten. An der Grenze wurden sie jedoch von einem Angehörigen der italienischen Faschistengare aufgehalten, der sie nach diversen Versprechungen aber weiterreisen ließ.
Schließlich erreichten Josef und Gertrude Scharfstein England und suchten um Visa für Australien an. Nach längerem erfolglosem Warten entschieden sie sich jedoch dafür, Visa für Ecuador zu beantragen, die man leichter zu bekommen schien. Nach der Bewilligung und Aushändigung reisten sie per Schiff nach Südamerika, eine Fahrt die mehrere Wochen in Anspruch nahm. Auf Schiff versuchten sie sich ein paar Sätze Spanisch anzueignen, was sich jedoch äußerst schwierig gestaltete.
In Ecuador angekommen, trafen sie bald auf Josefs Bruder Moritz, dem auch die Flucht nach Südamerika gelungen war. Gemeinsam bauten die zwei Brüder einen exportorientierten Uhrenhandel in Guayaquil auf und gelangten zu Wohlstand. Dieser ermöglichte es, auch die übrigen verstreuten Familienangehörigen nach Ecuador zu holen, sodass Stiefmutter Olga und der jüngere Bruder Alfred bald folgten. Schon zuvor hatte Gertrudes und Josefs erstes Kind Denis das Licht der Welt erblickt. Aufgrund der klimatischen Bedingungen entschloss sich die Familie aber nach Chile weiterzuziehen, wo Tochter Daniela geboren wurde.
Chile wurde damit zur neuen Heimat der Familie Blüh-Scharfstein, dennoch hielten Trude und Josef (José) an ihrer österreichischen Lebensweise fest. Das zeigte sich insbesondere an ihrem Zuhause, wo sich eine Verbundenheit mit Gertrudes Geburtsstadt Graz zeigte. Sergio Schlesinger, Sohn von Tochter Daniela, berichtet etwa von der Gastfreundschaft der Großeltern Scharfstein. Der Hof wäre immer grün und gut gepflegt gewesen, umgeben von Hügeln und Gärten, die das Haus umschlossen. Die Terrasse hätte die Atmosphäre des zweiten Stockes ihres Grazer Elternhauses wiedergespiegelt und ein schöner Weinstock das ganze Jahr Schatten gespendet.
Trude war auch bekannt für ihre leckeren österreichischen Süßspeisen, die sie für ihre Familie kredenzte. Hervorzuheben sind ihr Schokoladenauflauf, Apfelstrudel oder die Vanillekipferl, die sie dem Kaffee beilegte. Nach Österreich zurückkehren wollte sie jedoch niemals mehr. Die Verletzungen, die ihr in ihrer Heimatstadt Graz zugefügt worden waren, konnten ihr ganzes Leben nicht verheilen. Dennoch war sie ein glücklicher, fröhlicher und optimistischer Mensch, für den das Wasserglas immer halb voll war. Die schrecklichen Ereignisse in Graz blieben jedoch unvergessen. Das zeigte sich auch an der Sparsamkeit und daran, dass Lebensmittel nie im Übermaß gekauft wurden. Sie lebte noch immer so, als ob jeder Cent zum Überleben der Familie notwendig wäre.
Obwohl Trude und José später österreichische Reisepässe erhielten – beide liebten es zu reisen – kehrte sie nie wieder nach Europa zurück. Ihr Enkel Sergio meint, Trude wollte zwar nie wieder in Graz leben, versuchte aber dennoch so zu leben, als ob sie Graz nie verlassen hätte.
Gertrude Scharfstein verstarb im Jahr 2010 im Kreise ihrer Familie in Chile.