ANTON VALENTIN
VIDIC
JG. 1904
DEPORTIERT 1939
DACHAU, BUCHENWALD
1941 MAUTHAUSEN
BEFREIT
Als Porajmos wird der Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus bezeichnet. Es handelte sich dabei um den Versuch einer kollektiven Vernichtung, wobei die Opfer pseudowissenschaftlichen und kriminalpolizeilichen Einschätzungen der nationalsozialistischen Täter, die sie dem „Zigeunertum“ zuordneten, ausgeliefert waren. Dieser Definition war die rassistische Deutung als „fremdrassig“ eingeschlossen, „Zigeuner“ galten als „geborene Asoziale“. Der NS-Staat zielte zuerst auf Verfolgung und Internierung, schließlich auf die Vernichtung der Roma. Im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gab es einen eigenen dafür vorgesehenen Abschnitt.
In Österreich lebten 1938 etwa 11.000 „Zigeuner“, wie diese damals umgangssprachlich fast ausschließlich genannt wurden. In diese Kategorisierung fielen die Burgenland-Roma, die mit 8.500 Personen den größten Teil stellten, sowie deutsche und österreichische Sinti und andere Splittergruppen. Einer Mehrheit war das Land zur Heimat geworden – in der Not der Zwischenkriegszeit arbeiteten viele als Händler, Handwerker oder Musiker, aber auch als Arbeiter und Tagelöhner. Dominant war allerdings die sozial schlechte Lage und so überwogen Armut und geringe Bildung, welche durch die Weltwirtschaftskrise ausgelöste Arbeitslosigkeit in den 1930er-Jahren noch zunahm. Ressentiments der Mehrheitsbevölkerung gegen das „fahrende Volk“ waren schon damals weit verbreitet. Noch in der Ersten Republik wurden Gesetze verabschiedet, die es erlaubten, Roma namentlich, sowie mit Fotos und Fingerabdruck, zu erfassen – solche Datenbanken halfen den Nationalsozialisten später bei der Organisation der Deportationen.
Nach dem „Anschluss“ an das „Deutsche Reich“ im März 1938 wurden die Roma durch verschiedene Gesetze, wie dem Verbot des Musizierens oder dem Verbot der Ausübung sämtlicher Wandergewerbe, ihrer Lebensgrundlage beraubt. Das Stimmrecht wurde ihnen entzogen und ein Schulverbot ausgesprochen – Roma und Sinti hatten keinen Platz in der „Volksgemeinschaft“ der Nationalsozialisten, stattdessen wurden sie vielerorts zu Zwangsarbeit genötigt. Der überwiegende Teil dieser Diskriminierungs- und Ausgrenzungsmaßnahmen erfolgte ohne jegliche gesetzliche Grundlage, sondern beruhte auf den Initiativen der österreichischen Gau-, Regional-, Lokal- und Polizeibehörden. Bezeichnend zur Einstellung der Nationalsozialisten gegenüber den Roma und Sinti ist das dem steirischen Gauleiter Sigfried Uiberreither zugeschriebene Zitat aus dem Jahr 1939: „Obwohl es sich hierbei um anständig beschäftigte Zigeuner handelt, die weder vorbestraft noch arbeitsscheu sind oder in anderer Weise der Allgemeinheit zur Last fallen, will ich ihre Unterbringung in Zwangsarbeitslagern aus der Erwägung heraus anordnen, dass ein Zigeuner als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend stets asozial ist.“
Diesen Verfolgungen war auch die Familie Vidic, welche 1938 in Graz lebte, ausgesetzt.
Die am 12. Juni 1875 geborene Maria Vidic stammt aus Kamenny Ujezd – deutsch Steinkirchen – in der Nähe von Budweis im heutigen Tschechien. Karl Waitz wurde am 15. Juni 1862 in Freßnitz geboren. Die beiden hatten mit Theodor, Franz, Josef, Anton, Karl, Georg und Johann sieben gemeinsame Söhne und lebten 1938 in der Ägydigasse 6. Maria, genannt „Djika“, wurde am 16. April 1943 ins Konzentrationslager Ausschwitz deportiert. Karl, genannt „Ambrol“, folgte vermutlich Anfang Mai und wurde kurz nach seiner Ankunft am 6. Mai 1943 ermordet. Maria verstarb wenige Monate später am 4. August 1943.
Anton Valentin Vidic wurde am 17. Oktober 1904 in St. Gertraud bei Wolfsberg im Lavanttal geboren. Er ist einer der sieben Söhnen von Maria Vidic und Karl Waitz. Anton Valentin war nicht verheiratet. Seine genaue berufliche Tätigkeit ist nicht bekannt, in den Akten der Nationalsozialisten ist er allerdings mehrmals als „Geschäftsführer“ vermerkt. Die Adresse in der Fabriksgasse 38 ist die letzte in Graz vermerkte, bevor sein Leidensweg durch mehrere Konzentrationslager begann. Vidic wurde am 28. Juni 1939 zur sogenannten „Schutzhaft“ – unter dem euphemistischen Begriff verstand man die Inhaftierung von Regimegegnern und anderen missliebigen Personen aufgrund einer polizeilichen Anordnung – ins Konzentrationslager Dachau verschleppt, einen Monat später wurde er in das KZ Buchenwald verlegt. In seiner am 27. September 1939 eröffneten Häftlingspersonalmarke wird Vidic als „Zigeuner“ bezeichnet, folgende Gegenstände musste er bei der Einlieferung abgeben: einen Hut, ein paar Schuhe, ein Paar Strümpfe, einen Rock, eine Hose, ein Hemd, eine Unterhose, eine Brieftasche und Papiere. Geldverwaltungskarten dokumentieren außerdem seine Monate in Buchenwald. Von dort erfolgte am 4. Juli 1941 die Überstellung in das Konzentrationslager Mauthausen. Nach fast vier Jahren Internierung erlebte Anton Valentin Vidic die Befreiung 1945 und kehrte nach Graz zurück. Er wohnte ab August 1945 zuerst am Griesplatz und dann in der Brandhofgasse. Seine Tochter Leopoldine, geboren am 27. Jänner 1935 in Leoben, die ebenfalls den Krieg überlebte, wohnte – den Eintragungen am Meldezettel nach zu schließen – zusammen mit ihrem Vater.
Franz Vidic, der jüngere Bruder von Anton Valentin, wurde am 14. Mai 1912 in Bischofshofen in Salzburg geboren. 1921 heiratete er, seine am 29. August 1921 geborene Frau hieß Justina, ihr Mädchenname war Renneitz. 1938 lebte er zusammen mit seinen Eltern in der Ägydigasse 6 und arbeitete als Kutscher. Neben Anton Valentin ist auch bekannt, dass ein weiterer Bruder – Theodor Vidic – in Graz, am Griesplatz 6, lebte. Franz Vidic wurde zusammen mit seinem Bruder Anton Valentin am 28. Juni 1939 ins Konzentrationslager Dachau verschleppt und anschließend, erneut deckungsgleich mit diesem, ein knappes Monat später weiter nach Buchenwald sowie Anfang Juli 1941 nach Mauthausen deportiert. Auch sonst zeigen die Quellen eine ähnliche Faktenlage, so etwa eine nahezu idente Liste abgegebener Kleider und Wertsachen, zu denen auch ein Wehrpass gehörte. Wie aus den Häftlingsunterlagen außerdem hervorgeht, wurde Franz in einem Arbeitskommando eingesetzt. Als einziger der Familie Vidic, für die in der Ägydigasse Stolpersteine verlegt wurden, überlebte Franz Vidic den Krieg. In der Nachkriegszeit war er am Griesplatz, danach in der Bienen- und Sterngasse gemeldet. Justina und er bekamen drei Kinder, 1946 Peter, 1949 Alfred und 1960 Margit. Franz Vidic starb 1969.
Die am 9. April 1891 geborene Theresia Kolompar stammt aus Czacsbozsek bei Zalaegerszeg in Ungarn. Sie heiratete Josef Vidic, einen weiteren Bruder von Franz und Anton Valentin. Bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten lebte Theresia, genannt „Sidi“, in der Ägydigasse, wo ihr Aufenthalt durch Quellen auch noch im September 1940 belegt ist. Am 26. Oktober 1943 wurde sie nach Ausschwitz deportiert und verstarb am 16. März 1944 im dortigen Konzentrationslager.
Leopoldine Vidic wurde im November 1915 in Wien geboren. Auch sie lebte in der Ägydigasse 6. Ähnlich wie Theresia, schaffte sie es vorerst, den Deportationen zu entgehen – auch sie war im September 1940 noch in Graz. Am 16. April 1943 allerdings wurde sie im Konzentrationslager Ausschwitz registriert und dort am 22. Jänner 1944 ermordet. Leopoldine, genannt „Boldi“, steht nach bisherigen Erkenntnissen in keinem direkten Verwandtschaftsverhältnis zu Karl, Maria, Anton Valentin und Franz, dürfte aber dem größeren Familienkomplex Vidic zuzurechnen sein.
Die Adresse in der Ägydigasse wird in einem Schreiben des Grazer Oberbürgermeisters an den Reichsstatthalter Steiermark im Dezember 1940 genannt und findet sich außerdem in den Unterlagen der Rassenhygienischen Forschungsstelle von Robert Ritter in Berlin, welche die Begutachtungen von „Zigeunern“ im Deutschen Reich erarbeitete und somit maßgeblich an der Grundlage für die Ermordung und Zwangssterilisation Tausender Roma mitwirkte. Endgültig beschlossen wurde der Porajmos durch den sogenannten „Auschwitz-Erlass“ von SS-Reichsführer Heinrich Himmler im Dezember 1942 – dieser legte den „Ausrottungsplan“ aller „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ fest. Die Umsetzung erfolgte ab dem Frühjahr 1943: Eine halbe Million europäischer Roma und Sinti hat den Holocaust nicht überlebt, von den 11.000 in Österreich lebenden wurden zwei Drittel Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Am meisten davon starben in Lodz, Chelmno und Auschwitz-Birkenau, so auch Karl Waitz, Maria, Theresia und Leopoldine Vidic. Die Stolpersteine für die Familie erinnern an die Verfolgung dieser Opfergruppe in Graz.
Recherche und Biografie: Mag. Thomas Stoppacher
Quellen:
- Meldezettel der Stadt Graz: Anton Valentin Vidic.
- Meldezettel der Stadt Graz: Franz Vidic.
- Individuelle Häftlingsunterlagen – KL Buchenwald. Anton Valentin Vidic, Franz Vidic. 1.1.5./01010503 oS/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
- Karteikarten vom Amt für die Erfassung von Kriegsopfern, Berlin. Anton Valentin Vidic, Franz Vidic. 2.3.1./23120001/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
- Kulturverein Österreichischer Roma, Opferdatenbank der im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten österreichischen Roma und Sinti: Karl Waitz, Maria Vidic, Anton Valentin Vidic, Franz Vidic, Theresia Vidic, Leopoldine Vidic.
- Sabine Schweitzer, „Anständig beschäftigt“. Dezentrale nationalsozialistische „Zigeunerlager“ 1938-1945 auf dem Gebiet des heutigen Österreich, Mattersburg 2021.
- Kulturverein Österreichischer Roma, Vom Rand in die Mitte. 20 Jahre Kulturverein Österreichischer Roma, Oberwart 2011.
- Till Bastian: Sinti und Roma im Dritten Reich. Geschichte einer Verfolgung, München 2001.
- Erika Thurner, Die Verfolgung der österreichischen Roma. Text für die Ausstellung 1938. NS-Herrschaft in Österreich, in: www.doew.at (aufgerufen am 30.10.2021).
- Rudolf Sarközi, Rom sein in Österreich, in: Erika Thurner/Elisabeth Hussl/Beate Eder-Jordan (Hrsg.), Roma und Travellers. Identitäten im Wandel, Innsbruck 2015, 97-104.