Samuel Sensel

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HIER WOHNTE UND ARBEITETE
SAMUEL SENSEL
JG. 1878
GESCHÄFT ‚ARISIERT‘ 1938
UNFREIWILLIG VERZOGEN
1938 WIEN
DEPORTIERT 1942
MALY TROSTINEC
ERMORDET 4.9.1942

Samuel Sensel wurde am 14. November 1878 als Sohn von Moritz und Netti, geb. Terker, in Szucsán in der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie geboren (heute Sučany in der Slowakei). Seine spätere Frau kam am 11. November 1879 als Katharina Scheck in Sonnberg im damals österreichischen Böhmen (heute Žumberk, Tschechien) auf die Welt, ihre Eltern hießen Ignatz und Rosa, geb. Schneider. Katharina („Käthe“), die sich als Handarbeiterin verdingte, und Samuel, der als Geschäftsleiter in Böhmen arbeitete, heirateten im Jahr 1905, beide gehörten der jüdischen Glaubensgemeinschaft an.

Am 1. September 1905 eröffnete Samuel Sensel die Gemischtwarenhandlung „Warenhalle zum Arbeiter“ in Kindberg, und zwar im Haus Hauptstraße 15, damals im Besitz von Carl Aichholzer. Ende 1906 änderten sich die Eigentumsverhältnisse der Liegenschaft und Sensel musste ausziehen. Er siedelte in das Haus von Rudolf Fuhrmann, Hauptstraße 25. Das Sortiment umfasste Lebensmittel, Stoffe, Bekleidung und Schuhe. Sensel vertrieb etwa das „Hammerbrot“ aus der Großbäckerei der Wiener Arbeiterschaft. Zahlreiche Lehrlinge wurden bei ihm ausgebildet. Bereits 1908 suchte er einen Verkäufer als Filialleiter, 1910 beabsichtigte er eine Filiale in der Veitsch zu errichten.
1914 verlegte er Geschäft und Wohnung in das bedeutend größere Haus von Friedrich Fritz, Hauptstraße 49. Auch Katharina Sensel war im Betrieb tätig, besonders als ihr Mann im Ersten Weltkrieg eingerückt war. 1922 erwarben sie das heute nicht mehr bestehende Haus Wienerstraße 16 in Kapfenberg, am Beginn des Schlossbergweges, und eröffneten dort eine Filiale.
Am 1. Dezember 1934 kauften Samuel und Katharina Sensel von Anton Fürst die Liegenschaft Hauptstraße 65 in Kindberg. Hier war nicht nur Raum für Wohnung und Geschäft, sondern auch für zahlreiche Mietparteien. Sensel ermöglichte es seinen Kunden, Waren, die sie dringend benötigten, aber sich momentan nicht leisten konnten, erst später zu bezahlen. So kam es, dass bei der Auflösung des Geschäftes viele Schulden nicht beglichen waren.

Von 1914 bis 1934 wirkte die Familie Sensel im Haus Hauptstraße 49 von Friedrich Fritz. Diese Ansichtskarte aus dem Jahr 1932 stammt vom Frank-Verlag Graz. Auf der Bank vor dem Musikpavillon sitzt in der Mitte Samuel Sensel.

Von 1914 bis 1934 wirkte die Familie Sensel im Haus Hauptstraße 49 von Friedrich Fritz. Diese Ansichtskarte aus dem Jahr 1932 stammt vom Frank-Verlag Graz. Auf der Bank vor dem Musikpavillon sitzt in der Mitte Samuel Sensel.
Quelle: Privatbesitz

Samuel Sensel war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und gehörte dem Ausschuss der Sparkasse der Marktgemeinde Kindberg an. Er war im Vorstand der hiesigen Naturfreunde und des Arbeiterradfahrervereins tätig, in letzterem ein paar Jahre als Obmann und später im Ausschuss der Motorradsektion. Katharina Sensel wurde die Bannermutter des Arbeiterradfahrervereins. 1920 begründete Samuel Sensel den Kindberger Arbeiterturnverein „Eintracht“ mit und übernahm die Funktion des Kassiers.

Die Kinder von Katharina und Samuel Sensel wurden in Kindberg geboren: Paula im Jahr 1906, Erwin 1907 und Oskar 1911. Sie waren die einzigen Juden in Kindberg. 1919 erwarb die Familie die Heimatzugehörigkeit der Marktgemeinde. Paula und Erwin absolvierten die achtjährige Volksschule in Kindberg, Oskar wechselte nach dem fünften Jahr in die dreijährige Bürgerschule in Bruck an der Mur.
Oskar wurde Elektriker und wanderte 1933 nach Palästina aus. In Petach Tikwa ehelichte er im Jahr 1935 Mathilde (Masza Ajdla) Kermann aus Łódź (Polen), im selben Jahr kam Sohn Maximilian (Mosche David) in Herzlia auf die Welt.
Erwin wurde Kaufmann, heiratete 1934 in Wien die Jüdin Elsa Fischer aus Eggenburg in Niederösterreich und zog nach Kapfenberg. Ab 1935 gehörte ihm das dortige Haus und Geschäft der Eltern. Neben mehreren Angestellten und Lehrlingen war auch Elsa als Verkäuferin beschäftigt.
Paula heiratete 1937 den jüdischen Kaufmann Franz Wellisch und lebte mit ihm in St. Pölten.

Katharina und Samuel Sensel mit ihren Kindern Oskar (links), Paula und Erwin, 1937.

Katharina und Samuel Sensel mit ihren Kindern Oskar (links), Paula und Erwin, 1937.
Quelle: Stadtarchiv Kindberg

Katharina und Samuel Sensel mit ihren Kindern Oskar (links), Paula und Erwin, 1937.
Quelle: Stadtarchiv Kindberg

Infolge der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1938 wurde das Geschäft in Kindberg geschlossen und geräumt. Im Juli 1940 mussten Samuel und Katharina Sensel die Liegenschaft billig an die Marktgemeinde Kindberg verkaufen. Räumlichkeiten des Hauses wurden für Versammlungen der Hitlerjugend, der Feuerwehr usw. genutzt bzw. waren für ein Schmölzer-Museum vorgesehen. Der Volksliedsammler und Komponist Jakob Eduard Schmölzer (1812–1886) war in diesem Haus gestorben.
Erwin und Elsa Sensel verkauften das Geschäft in Kapfenberg um einen niedrigen Preis im Juli 1938, als sie zunehmenden Diskriminierungen ausgesetzt waren. Im August 1939 mussten sie dem neuen Besitzer auch das Haus verkaufen.

Im Dezember 1938 übersiedelten sowohl Samuel und Katharina Sensel als auch Erwin und Elsa und Oskar mit Familie, welche mittlerweile in Österreich lebte, nach Wien, um die Auswanderung zu organisieren.
Erwin gelangte nach einer schicksalhaften Flucht nach Venezuela, Oskar wiederum nach Palästina. Erwins Frau und Oskars Frau mit Kind schafften es, nachzukommen. Die Eltern, Samuel und Katharina, bekamen keine Gelegenheit zur Ausreise. Sie wurden in Wien mehrmals umquartiert und schließlich im August 1942 in den Vernichtungsort Maly Trostinec bei Minsk deportiert, wo sie am 4. September 1942 ermordet wurden. Auch Paula und ihr Mann fielen der Tötungsmaschinerie des Nationalsozialismus zum Opfer.

Erwin und Oskar Sensel bemühten sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die Rückstellung des Kindberger Besitzes von der Marktgemeinde; dazu kam es schließlich im Juli 1949. Sie kehrten nicht nach Österreich zurück und verkauften die Liegenschaft 1954 an Alois und Gisela Krikac. Erwin wurde 1948 auch das Haus in Kapfenberg restituiert; er verkaufte es im Jahr 1969. Elsa und Erwin Sensels Sohn Enrique kam 1948 in Venezuela auf die Welt. 2008 wurde Erwin Sensel (1907–2010) das Goldene Ehrenzeichen des Landes Steiermark und die Ehrenbürgerschaft von Kindberg verliehen.

Recherche und Biografie: Alexander Schein


Quellen:

  • Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands
  • Österreichisches Staatsarchiv
  • Stadtarchiv Kindberg
  • Steiermärkisches Landesarchiv
  • Tschechisches Nationalarchiv
  • tvthek.orf.at/history/Nachkriegszeit/13425189/Erwin-Sensel-Meine-Heimat-ist-Oesterreich/13250559
  • tvthek.orf.at/profile/Archiv/7648449/Erwin-Sensel-Kindberg-Wien-Barbados-Caracas/13432254/Erwin-Sensel-Kindberg-Wien-Barbados-Caracas/13547906
  • www.juden-in-st-poelten.at
  • Zeitungen: Arbeiterwille, Grazer Tagblatt, Grazer Volksblatt, Obersteirerblatt, Prager Tagblatt, Wiener Tagblatt
  • Zeitschriften: Der Arbeiter Rad- u. Kraftfahrer, Der Naturfreund, Zentralblatt für die Eintragungen in das Handelsregister in der Ostmark
  • Adressenbuch von Steiermark für Industrie, Handel u. Gewerbe (ausschließlich Graz), hg. v. Kienreichs Anzeigen-Gesellschaft, Graz, 1929
  • Lamprecht, Gerald / Mindler, Ursula: Opfer rassistischer Verfolgung. Jüdinnen nach den „Nürnberger Rassegesetzen“, in: Cäsar, Maria / Halbrainer, Heimo (Hg.): „Die im Dunkeln sieht man doch“. Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Steiermark, Graz, 2007 (=Clio – Historische und gesellschaftspolitische Schriften 5)
  • Schöberl, Karl: Kindberg vom Anbeginn bis 1918, Kindberg, 2008
  • Steindl, Hubert: Allerheiligen und Kindberg 1918–1938. Eine Regionalgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der politischen Auseinandersetzungen, Graz, 1988 (Diplomarbeit an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät)

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